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zusammengestellt von Rechtsanwalt/Fachanwalt für Arbeitsrecht u. Fachanwalt für Erbrecht
Michael Henn, Stuttgart
I.
Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 28. Januar 2025 – 1 AZR 73/24
Schlagworte/Normen:
Fälligkeit einer Sozialplanabfindung – Verzugszinsen
Volltext PE:
Abfindungsansprüche aus einem durch Spruch der Einigungsstelle beschlossenen Sozialplan, der erfolglos gerichtlich angefochten wurde, werden zu dem im Sozialplan bestimmten Zeitpunkt und nicht erst mit Rechtskraft der Entscheidung in dem Beschlussverfahren über die Wirksamkeit des Einigungsstellenspruchs fällig.
Die Klägerin war bei der Beklagten bis zum 31. Juli 2019 beschäftigt. Nach dem durch Spruch der Einigungsstelle am 8. Mai 2019 beschlossenen Sozialplan stand ihr ein Abfindungsanspruch zu, der mit der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig werden sollte. Die Beklagte focht den Einigungsstellenspruch wegen Überdotierung des Sozialplans an. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht wiesen den – auf die Unwirksamkeit des Sozialplans gerichteten – Feststellungsantrag ab. Das Bundesarbeitsgericht verwarf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten mit Beschluss vom 27. April 2021. Am 20. Mai 2021 zahlte die Beklagte an die Klägerin eine Sozialplanabfindung. Mit ihrer Klage verlangt die Klägerin – zuletzt noch – Verzugszinsen auf diesen Betrag ab dem 1. August 2019. Sie hat die Auffassung vertreten, die – erfolglose – Anfechtung des Sozialplans habe keinen Einfluss auf den im Sozialplan festgelegten Fälligkeitszeitpunkt.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die – vom Bundesarbeitsgericht insoweit zugelassene – Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts hatte vor dem Ersten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Die Klägerin hat Anspruch auf Verzugszinsen bereits ab dem 1. August 2019. Die – erfolglose – gerichtliche Anfechtung des Sozialplans hat nicht zu einer Verschiebung des dort bestimmten Fälligkeitszeitpunkts geführt. Die gerichtliche Entscheidung über die Wirksamkeit eines Einigungsstellen-spruchs hat lediglich feststellende und nicht rechtsgestaltende Wirkung. Die Beklagte traf auch ein Verschulden an der verspäteten Leistung. Die bloße Unsicherheit über die Wirksamkeit des Sozialplans begründete keinen unverschuldeten Rechtsirrtum.
Siehe:
https://www.bundesarbeitsgericht.de/presse/faelligkeit-einer-sozialplanabfindung-verzugszinsen/
II.
Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 28. Januar 2025 – 1 AZR 33/24
Schlagworte/Normen:
Digitales Zugangsrecht einer Gewerkschaft zum Betrieb
Volltext PE:
Ein Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, der für ihn tarifzuständigen Gewerkschaft die dienstlichen E-Mail-Adressen seiner – bereits vorhandenen und neu hinzukommenden – Arbeitnehmer zum Zweck der Mitgliederwerbung mitzuteilen. Ein solches Begehren kann nicht auf eine von den Gerichten – im Weg der gesetzesvertretenden Rechtsfortbildung – vorzunehmende Ausgestaltung der durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierten Koalitionsbetätigungsfreiheit gestützt werden.
Die Parteien haben über Möglichkeiten der klagenden Gewerkschaft gestritten, im Betrieb der Beklagten digital Werbung zu betreiben. Die Beklagte entwickelt, produziert und vertreibt Sportartikel. Sie ist die Obergesellschaft eines weltweiten Konzerns. Die Klägerin ist die für die Beklagte zuständige Gewerkschaft. Im Betrieb sind etwa 5.400 Arbeitnehmer tätig. Ein erheblicher Teil der betriebsinternen Kommunikation findet digital – ua. über E-Mail, die von Microsoft 365 entwickelte Anwendung Viva Engage und das konzernweite Intranet – statt. Die meisten Arbeitnehmer verfügen über eine unter der Domain der Beklagten generierte – namensbezogene – E-Mail-Adresse.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, ihr müsse für die Mitgliederwerbung ein „Zugang“ zu diesen Kommunikationssystemen eingeräumt werden. Die Beklagte sei daher ua. verpflichtet, ihr sämtliche betrieblichen E-Mail-Adressen der Arbeitnehmer zu übermitteln. Zumindest habe sie einen solchen Anspruch, um den Arbeitnehmern bis zu 104 E-Mails im Jahr mit einer Größe von bis zu 5 MB zu übersenden. Zudem sei ihr ein Zugang als „internal user“ zum konzernweiten Netzwerk bei Viva Engage zu gewähren, damit sie dort eine bestimmte Anzahl werbender Beiträge einstellen könne. Außerdem müsse die Beklagte auf der Startseite ihres Intranets eine Verlinkung mit einer Webseite der Klägerin vornehmen.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision der Klägerin hatte vor dem Ersten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg.
Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet einer Gewerkschaft zwar grundsätzlich die Befugnis, betriebliche E-Mail-Adressen der Arbeitnehmer zu Werbezwecken und für deren Information zu nutzen. Allerdings haben die Gerichte – mangels Tätigwerdens des Gesetzgebers – bei der Ausgestaltung der Koalitionsbetätigungsfreiheit auch die mit einem solchen Begehren konfligierenden Grundrechte des Arbeitgebers aus Art. 14 und Art. 12 Abs. 1 GG sowie die ebenfalls berührten Grundrechte der Arbeitnehmer aus Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in den Blick zu nehmen. Sie haben alle betroffenen Positionen im Weg der praktischen Konkordanz so in Ausgleich zu bringen, dass sie trotz ihres Gegensatzes für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden. Hiervon ausgehend blieb der auf eine bloße Übermittlung der betrieblichen E-Mail-Adressen gerichtete Klageantrag erfolglos. Ein solches isoliertes Begehren ermöglicht keine – die kollidierenden Verfassungswerte ausgleichende – Ausgestaltung der Koalitionsbetätigungsfreiheit.
Auch der hilfsweise Klageantrag, der auf eine Mitteilung der betrieblichen E-Mail-Adressen und eine Duldung ihrer Verwendung in bestimmtem Umfang abzielte, war unbegründet. Die mit dem Leistungs- und Duldungsverlangen jeweils einhergehenden Belastungen der Beklagten beeinträchtigen sie erheblich in ihrer verfassungsrechtlich garantierten wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit und begründen – schon jeweils für sich genommen – ihr überwiegendes Schutzbedürfnis gegen eine solche Inanspruchnahme. Das Abwägungsergebnis hat nicht zur Folge, dass damit für die Klägerin keine Möglichkeit eröffnet wäre, das E-Mail-System der Beklagten zu Werbe- oder Informationsmaßnahmen zu nutzen. Ihr steht die Möglichkeit offen, die Arbeitnehmer vor Ort im Betrieb nach ihrer betrieblichen E-Mail-Adresse zu fragen. Auch für deren grundrechtlich verbürgte Belange stellt dies den schonendsten Ausgleich dar.
Der auf eine Nutzung des konzernweiten Netzwerks bei Viva Engage gerichtete Klageantrag blieb ebenfalls erfolglos. Die damit verbundenen Beeinträchtigungen der Beklagten übersteigen das durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Interesse der Klägerin an der Durchführung solcher Werbemaßnahmen.
Auch der auf die Vornahme einer Verlinkung im Intranet der Beklagten abzielende Klageantrag war unbegründet. Die Klägerin konnte ihr Begehren mangels einer planwidrigen Regelungslücke im Betriebsverfassungsgesetz nicht auf eine analoge Anwendung von § 9 Abs. 3 Satz 2 BPersVG stützen. Ob sich ein solches Begehren grundsätzlich aus Art. 9 Abs. 3 GG ergeben kann, konnte der Senat offenlassen. Jedenfalls kann die Klägerin nicht verlangen, dass ein auf ihre Webseite verweisender Link auf der Startseite des Intranets angebracht wird.
Siehe:
https://www.bundesarbeitsgericht.de/presse/digitales-zugangsrecht-einer-gewerkschaft-zum-betrieb/
III.
Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 28. Januar 2025 – 9 AZR 48/24
Schlagworte/Normen:
Entgeltabrechnungen als elektronisches Dokument
Volltext PE:
Der Arbeitgeber hat dem Arbeitnehmer gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 der Gewerbeordnung (GewO) bei Zahlung des Arbeitsentgelts eine Abrechnung in Textform zu erteilen. Diese Verpflichtung kann er grundsätzlich auch dadurch erfüllen, dass er die Abrechnung als elektronisches Dokument zum Abruf in ein passwortgeschütztes digitales Mitarbeiterpostfach einstellt.
Die Klägerin ist im Einzelhandelsbetrieb der Beklagten als Verkäuferin beschäftigt. Für den Konzernverbund, dem die Beklagte angehört, regelt die Konzernbetriebsvereinbarung über die Einführung und Anwendung eines digitalen Mitarbeiterpostfachs vom 7. April 2021, dass alle Personaldokumente, insbesondere Entgeltabrechnungen, über einen externen Anbieter in einem digitalen Mitarbeiterpostfach bereitgestellt werden und von den Beschäftigten über einen passwortgeschützten Online-Zugriff abrufbar sind. Sofern für Beschäftigte keine Möglichkeit besteht, über ein privates Endgerät auf die im digitalen Mitarbeiterpostfach hinterlegten Dokumente zuzugreifen, hat der Arbeitgeber zu ermöglichen, die Dokumente im Betrieb einzusehen und auszudrucken. Auf Grundlage der Konzernbetriebsvereinbarung stellte die Beklagte ab März 2022 Entgeltabrechnungen nur noch elektronisch zur Verfügung. Dem widersprach die Klägerin und verlangte, ihr weiterhin Abrechnungen in Papierform zu übersenden.
Das Landesarbeitsgericht hat der Klage, mit der die Klägerin die Erteilung der Entgeltabrechnungen begehrt, stattgegeben. Es hat angenommen, die Entgeltabrechnungen seien ihr durch Einstellen in das Online-Portal nicht ordnungsgemäß erteilt. Bei Entgeltabrechnungen handele es sich um zugangsbedürftige Erklärungen. Ein digitales Mitarbeiterpostfach sei nur dann als Empfangsvorrichtung geeignet, wenn der Empfänger es – anders als die Klägerin im Streitfall – für den Erklärungsempfang im Rechts- und Geschäftsverkehr bestimmt habe.
Die Revision der Beklagten hatte vor dem Neunten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht.
Erteilt der Arbeitgeber Entgeltabrechnungen, indem er diese in ein digitales Mitarbeiterpostfach einstellt, wahrt er damit grundsätzlich die von § 108 Abs. 1 Satz 1 GewO vorgeschriebene Textform. Der Anspruch eines Arbeitnehmers auf Abrechnung seines Entgelts ist eine sog. Holschuld, die der Arbeitgeber erfüllen kann, ohne für den Zugang der Abrechnung beim Arbeitnehmer verantwortlich zu sein. Es genügt, dass er die Abrechnung an einer elektronischen Ausgabestelle bereitstellt. Hierbei hat er den berechtigten Interessen der Beschäftigten, die privat nicht über die Möglichkeit eines Online-Zugriffs verfügen, Rechnung zu tragen.
Die in der Konzernbetriebsvereinbarung im Rahmen des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG geregelte digitale Zurverfügungstellung der Entgeltabrechnungen greift nicht unverhältnismäßig in die Rechte der betroffenen Arbeitnehmer ein. Der Senat ist jedoch an einer abschließenden Entscheidung gehindert, weil bisher keine Feststellungen dazu getroffen worden sind, ob Einführung und Betrieb des digitalen Mitarbeiterpostfachs in die Zuständigkeit des Konzernbetriebsrats fallen.
Siehe:
https://www.bundesarbeitsgericht.de/presse/entgeltabrechnungen-als-elektronisches-dokument/
IV.
Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss vom 15. Oktober 2024, 11 TaBV 295/24 – veröffentlicht am 24.01.2025
Schlagworte/Normen:
Betriebsratswahl bei ausländischer Fluggesellschaft - Stationierungsort BER ist eine betriebsratsfähige Organisationseinheit
Volltext PE:
Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat entschieden, dass es sich bei einem inländischen Stationierungsort einer Fluggesellschaft mit Sitz im europäischen Ausland um eine betriebsratsfähige Organisationseinheit handelt, in der ein Betriebsrat nach den Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes gewählt werden kann.
Die antragstellende Fluggesellschaft hat ihren Sitz in Malta und ihre Konzernzentrale in Irland. Sie führt unter maltesischer Fluglizenz Flüge von und zu Flughäfen in europäischen Staaten durch und unterhält unter anderem am Flughafen Berlin-Brandenburg (BER) einen Stationierungsort. Unter Einsatz elektronischer Kommunikationsmittel lenkt die Fluggesellschaft sämtliche dem BER als Heimatbasis zugeordnete Cockpit- und Kabinenbeschäftigte in personellen und sozialen Angelegenheiten sowie disziplinarisch von Malta und Irland aus. Am BER sind ein Base Captain für die Beschäftigten im Cockpit und eine Base Supervisorin für die Kabinenbeschäftigten tätig, die neben ihren Tätigkeiten als Pilot bzw. Flugbegleiterin als lokale Ansprechpartner fungieren. Diese Funktion üben sie sowohl für Flugaufsichtsbehörden und Flughafenbetreiber als auch für die am BER Beschäftigten der Fluggesellschaft aus.
Am Stationierungsort BER existiert bisher weder ein Betriebsrat noch eine durch Tarifvertrag gebildete Personalvertretung. Eine einstweilige Verfügung der Fluggesellschaft auf vorläufige Untersagung der Wahl eines Wahlvorstands zur Vorbereitung einer Betriebsratswahl war im Jahr 2023 vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg gescheitert (PM Nr. 08/23 vom 18.04.2023). Im März 2023 und Februar 2024 wurde ein Wahlvorstand gewählt.
Die Fluggesellschaft hat die Feststellung beantragt, dass der Stationierungsort BER keine betriebsratsfähige Organisation im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes darstelle. Sie ist davon ausgegangen, dass wegen der europaweiten Leitung des Unternehmens einschließlich der Personalabteilung aus Malta und der europaweiten Einsatzplanung durch die Konzernzentrale in Irland in Deutschland und auch am BER keine Personen mit Leitungsbefugnissen in personellen und sozialen Angelegenheiten tätig seien. Deshalb fehle es am BER an einer betriebsratsfähigen Organisationseinheit mit einem Mindestmaß an organisatorischer Selbständigkeit. Ein betriebsratsfähiger Betriebsteil scheitere auch daran, dass kein im Inland und damit im Geltungsbereich des Betriebsverfassungsgesetzes liegender Hauptbetrieb existiere. Außerdem sei die Wahl mehrerer Mitglieder und Ersatzmitglieder des Wahlvorstands unwirksam.
Die am Verfahren beteiligte Gewerkschaft und der Wahlvorstand gehen von einem betriebsratsfähigen Betriebsteil am BER aus, in dem bei zutreffender Auslegung des Betriebsverfassungsgesetzes ohne Erfordernis eines inländischen Hauptbetriebes ein Betriebsrat gewählt werden könne. Das erforderliche Mindestmaß an organisatorischer Selbständigkeit werde durch die fachlich vorgesetzten Base Captain und Base Supervisorin gewährleistet, die Weisungen gegenüber den Beschäftigten in Cockpit und Kabine erteilten bzw. durch Informationen an die Zentrale vorbereiteten.
Das Arbeitsgericht Cottbus hatte die Anträge der Fluggesellschaft zurückgewiesen. Es ist von der Betriebsratsfähigkeit des Stationierungsorts BER und von der Wirksamkeit der Wahlen ausgegangen. Gegen diese Entscheidung hat die Fluggesellschaft Beschwerde eingelegt.
Das Landesarbeitsgericht hat entschieden, dass am Stationierungsort BER eine betriebsratsfähige Organisation bestehe, in der ein Betriebsrat gewählt werden könne. Der Stationierungsort BER sei als Betriebsteil im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes zu beurteilen, der räumlich weit von dem im Ausland gelegenen Hauptbetrieb entfernt sei. Mit den von Base Captain und Base Supervisorin ausgeübten Tätigkeiten werde ein Mindestmaß an organisatorischer Selbständigkeit gewahrt, weil es in ihrem pflichtgemäßen Ermessen liege, Beschäftigte auf Verstöße hinzuweisen oder diesbezügliche Informationen an Konzernzentrale oder Personalabteilung weiterzuleiten. Durch Hinweise an die Beschäftigten, etwa zur Pflicht zum pünktlichen Erscheinen oder zur Einhaltung der Kleidungsvorschriften, erteilten sie faktisch Weisungen mit dem Ziel, ein Fehlverhalten von Beschäftigten abzustellen. Damit liege ein qualifizierter Betriebsteil im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes vor, in dem ein Betriebsrat gewählt werden könne. Ein im Inland gelegener Hauptbetrieb sei insoweit nicht zwingend erforderlich. Jedenfalls sei die Regelung zur Betriebsratsfähigkeit von Betriebsteilen bei Fluggesellschaften mit Sitz und Hauptbetrieb im Ausland entsprechend anzuwenden. Dies sei Folge der gesetzgeberischen Entscheidung aus dem Jahr 2018, dass bei Fluggesellschaften Betriebsräte gewählt werden könnten, sofern kein Tarifvertrag zur Bildung von Personalvertretungen zustande komme.
Hinsichtlich der Angriffe der Fluggesellschaft gegen die Wirksamkeit der Wahl mehrerer Mitglieder und Ersatzmitglieder des Wahlvorstands hat das Landesarbeitsgericht der Beschwerde stattgegeben. Bei der Wahl im März 2023 sei bei einzelnen Gewählten die erforderliche Mehrheit der Stimmen nicht erzielt worden. Die Wahl von Februar 2024 sei unwirksam, weil bereits der Wahlort in einer Entfernung von etwa 25 km vom BER in den Räumen der Gewerkschaft nicht zulässig gewählt worden sei und nicht auszuschließen sei, dass Wahlberechtigte aufgrund dieser Entfernung von einer Wahlteilnahme abgesehen hätten. Beide Wahlen seien zwar nicht nichtig, aber anfechtbar und damit unwirksam.
Das Landesarbeitsgericht hat für die Fluggesellschaft und für den Wahlvorstand die Revision zum Bundesarbeitsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der maßgeblichen Rechtsfragen zugelassen.
Siehe:
https://www.berlin.de/gerichte/arbeitsgericht/presse/pressemitteilungen/2025/pressemitteilung.1524504.php
V.
Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Beschluss vom 11.12.2024 - 12 TaBV 21/24 – veröffentlicht am 31.01.2025
Schlagworte/Normen:
Zulässigkeit von Betriebsversammlungen am Flughafen
Volltext PE:
Die Arbeitgeberin, ein privates Unternehmen für Sicherheitsdienstleistungen, welches zuletzt ca. 1.450 Arbeitnehmer beschäftigte, führt an einem Flughafen in Nordrhein-Westfalen mit öffentlichrechtlich beliehenen Luftsicherheitsassistenten die Passagier- und Gepäckkontrollen durch. Nachdem sich die Arbeitgeberin auf den Standpunkt gestellt hatte, dass wegen der Eigenart des Betriebs die Durchführung von Betriebsversammlungen während der Arbeitszeit nicht möglich sei, hat der Betriebsrat ein gerichtliches Verfahren eingeleitet, um klären zu lassen, dass einschränkungslos jegliche Betriebs- oder Teilbetriebsversammlungen während der Arbeitszeit gestattet sind, jedenfalls aber Teilbetriebsversammlungen.
Vor dem Landesarbeitsgericht hatten seine Anträge nur teilweise Erfolg. Der Umstand, dass es sich bei den Passagier- und Gepäckkontrollen um eine hoheitliche Aufgabe der Gefahrenabwehr handelt, steht der Durchführung der Versammlungen während der Arbeitszeit zwar nicht absolut entgegen. § 2 Abs. 1 BetrVG bedingt jedoch eine Rücksichtnahme auf die Interessen der Arbeitgeberseite und so die Verlegung der Versammlungen in kundenarme Zeiten. Die Durchführung von Teilversammlungen ist zulässig, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:
•maximal zwölf Teilbetriebsversammlungen im Kalendervierteljahr,
•Verteilung dieser zwölf Teilbetriebsversammlungen auf sechs Tage mit zwei Teilbetriebsversammlungen pro Tag innerhalb des jährlichen Quartals,
•Dauer jeder Teilbetriebsversammlung höchstens vier Stunden,
•Zeitfenster für die einzelne Teilbetriebsversammlung: 8:00 Uhr bis 12:00 Uhr (während der Frühschicht) oder 13:00 Uhr bis 17:00 Uhr (während der Spätschicht),
•Begrenzung auf die Wochentage Montag oder Mittwoch,
•maximale Teilnehmerzahl von 80 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern je Teilbetriebsversammlung,
•keine Teilbetriebsversammlungen während der Schulferien in Nord-rhein-Westfalen,
•vorherige Anmeldung der an einer Teilnahme interessierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei dem Betriebsrat und - mit einer Vorlaufzeit von mindestens 3 Monaten - gegenüber der Arbeitgeberin bezogen auf den konkreten Termin der einzelnen Teilbetriebsversammlung.
Bei Einhaltung dieser Bedingungen stehen der Durchführung keine zwingenden Gründe i.S.v. § 44 Abs. 1 BetrVG entgegen, und zwar weder in technisch-organisatorischer noch in wirtschaftlicher Hinsicht. Störungen in der Fluggastkontrolle werden so in größtmöglichem Maße vermieden bei gleichzeitiger Wahrung des Rechts der Belegschaft zur regelmäßigen Durchführung von Betriebsversammlungen. Es ist auch nicht zu beanstanden, dass der Betriebsrat sich für Teilbetriebsversammlungen während der Arbeitszeit anstelle von Vollbetriebsversammlungen außerhalb der Arbeitszeit entschieden hat.
Das Landesarbeitsgericht hat die Rechtsbeschwerde zum Bundesarbeitsgericht zugelassen.
Siehe:
https://www.justiz.nrw.de/presse/2025-01-31
VI.
Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg
Urteil vom 17.01.2025 – 12 Sa 102/24
Schlagworte/Normen:
Leiharbeit - Tätigkeitsnachweise - vertragliche Verpflichtung - mehrere Arbeitsverhältnisse - Bestimmung des Leistungszwecks
Leitsatz:
Bei einer arbeitsvertraglich vereinbarten Verpflichtung, die geleistete Arbeit zu dokumentieren oder dokumentieren zu lassen, handelt es sich um einen Teil der angewiesenen Arbeitsleistung, die wegen des Charakters der Arbeitspflicht als Fixschuld mit Zeitablauf untergehen und die deshalb nicht nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eingeklagt werden kann.
Siehe:
https://gesetze.berlin.de/bsbe/document/NJRE001598098
VII.
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
Urteil vom 22.01.2025, 11 K 2880/20 – veröffentlicht am 6.02.2025
Schlagworte/Normen:
Integrationsamt muss Zustimmung für außerordentliche Kündigung einer städtischen (schwerbehinderten) Beschäftigten erteilen
Volltext PE:
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) als Integrationsamt muss die Zustimmung für die außerordentliche Kündigung einer mit schwerbehinderten Menschen gleichgestellten städtischen Beschäftigten erteilen. Dies hat das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen durch Urteil nach mündlicher Verhandlung vom 22. Januar 2025 entschieden.
Die Klägerin, eine Stadt und Arbeitgeberin der betroffenen Beschäftigten, ist überzeugt, dass die im Bereich der Verkehrsüberwachung Beschäftigte von einer anderen Mitarbeiterin im April 2019 verlangt hat, die Verwarnung ihrer Tochter zu annullieren und sie selbst nicht bei Parkverstößen zu verwarnen. Hierzu soll sie vorab mitgeteilt haben, wann sie wo im Stadtgebiet der Klägerin parke. Die Klägerin stellte hierzu umfangreiche Ermittlungen an, nachdem die damalige Abteilungsleiterin im Fachbereich Öffentliche Ordnung am 31. Juli 2019 über den Sachverhalt informiert wurde. Sie ließ prüfen, wie viele und welche Verwarnungen in den Jahren 2012-2019 annulliert wurden. Die im gesamten Bereich der Verkehrsüberwachung ermittelten 2.781 ungültig gesetzten Verwarnungen ließ sie in eine Excel Liste übertragen, um eventuelle Muster im Hinblick auf mehrfache begünstigte Halter anhand der Kfz-Kennzeichen zu erkennen. Dieser weiteren Ermittlung ging sie nachfolgend nicht weiter nach und beantragte am 18. November 2019 bei dem beklagten LWL die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung der städtischen Beschäftigten. Der LWL verweigerte die Zustimmung, weil die Klägerin sie nicht binnen der gesetzlichen Frist von zwei Wochen ab Kenntniserlangung von den für die Kündigung maßgeblichen Tatsachen beantragt habe.
Die 11. Kammer des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen hat die Beklagte verpflichtet, die Zustimmung zu erteilen. Die Ermittlungen zur Sachverhaltsaufklärung haben die Frist für den Antrag auf Zustimmung gehemmt. Die Klägerin durfte den Sachverhalt wegen der im Raum stehenden Vorwürfe, das der Beschäftigten vorgeworfene Verhalten sei im Bereich der Verkehrsüberwachung der Klägerin üblich und weitere Beschäftigte in diesem Bereich würden vergleichbar handeln, aufklären. Diese Ermittlung dauerte circa zweieinhalb Monate. Die ermittelten 2.781 annullierten Verwarnungen in acht Jahren hat die Klägerin ohne feststellbare Verzögerungen untersucht. Die Konzentration auf die zum Verfahren beigeladene Beschäftigte, anstatt die erhebliche Dimension der Annullierungen weiter aufzuklären, ist vertretbar. Zwischen frühester sicherer und möglichst vollständiger Kenntniserlangung der nach Auffassung der Klägerin zur Kündigung berechtigenden Umstände sowie dem Antrag auf Zustimmung lagen keine zwei Wochen. Der geltend gemachte Kündigungsgrund steht zur Überzeugung des Gerichts nicht im Zusammenhang mit der Behinderung der Beschäftigten.
In dem Streitverfahren kam es lediglich auf die Einhaltung der Frist für den Antrag auf Erteilung der Zustimmung zur Kündigung durch das Integrationsamt an. Nach Erteilung der Zustimmung kann die Klägerin die Kündigung aussprechen. Der Streit darüber wäre vor den Arbeitsgerichten zu führen.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Der Beklagte sowie die beigeladene städtische Beschäftigte können vor dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen die Zulassung der Berufung beantragen.
Siehe:
https://www.justiz.nrw.de/presse/2025-02-06-0
VIII.
Arbeitsgericht Siegburg
Urteil vom 23.01.2025, 5 Ca 1465/24 – veröffentlicht am 6.02.2025
Schlagworte/Normen:
Ermittlungsverfahren wegen des Besitzes kinderpornographischer Bilder darf bei einem Sozialarbeiter im Arbeitszeugnis erwähnt werden
Volltext PE:
Bei einem Jugendamtsmitarbeiter, der mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, darf trotz der Unschuldsvermutung ein laufendendes Ermittlungsverfahren wegen des Besitzes kinderpornographischer Schriften im Zeugnis erwähnt werden, entschied das Arbeitsgericht Siegburg am 23.01.2025 in einem nunmehr veröffentlichten Urteil.
Der Kläger war als Sozialarbeiter im Jugendamt der beklagten Stadt seit über vier Jahren beschäftigt und u.a. für Kinderschutzmaßnahmen zuständig. Gegen den Kläger wurde wegen des Verdachts, kinderpornographisches Material zu besitzen, ermittelt. Die Kriminalpolizei durchsuchte sein Dienstzimmer und beschlagnahmte das Diensthandy. Im Polizeibericht wurde empfohlen, dem Kläger jeglichen Zugriff auf Kinder und Jugendliche zu verweigern. Das Arbeitsverhältnis wurde während des noch laufenden Ermittlungsverfahrens von der Stadt gekündigt und dem Kläger ein Zeugnis erteilt, in dem das Ermittlungsverfahren und der Vorwurf ausdrücklich erwähnt wurden. Mit der vorliegenden Klage macht der Sozialarbeiter die Streichung dieser Aussagen in seinem Arbeitszeugnis geltend, da es sich nur um einen Verdacht handele und das Zeugnis ihm bei der Suche nach einer neuen Stelle schade.
Mit Urteil vom 23.01.2025 wies das Arbeitsgericht Siegburg die Klage insoweit ab. Arbeitszeugnisse müssten zwar wohlwollend formuliert sein, so dass noch nicht abgeschlossene Ermittlungsverfahren wegen der Unschuldsvermutung grundsätzlich nicht ins Zeugnis aufgenommen werden können. In strengen Ausnahmefällen – wie etwa beim Schutz von Kindern – bestehe allerdings die Pflicht des Arbeitgebers, ein Ermittlungsverfahren im Zeugnis zu erwähnen. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen gehe vor, zumal der Kläger im Prozess den Besitz der kinderpornographischen Fotos auf dem Diensthandy nicht bestritten habe. Nur dann entspreche das Zeugnis dem Gebot der Zeugniswahrheit.
Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig. Gegen das Urteil kann Berufung beim Landesarbeitsgericht Köln eingelegt werden.
Siehe:
https://www.justiz.nrw.de/presse/2025-02-06-1
IX.
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urteil vom 21. Januar 2025, L 16 KR 61/24 - veröffentlicht am 10.02.2025
Schlagworte/Normen:
Unterschrift reicht nicht – ohne Arbeit kein (Kranken-) Geld
Volltext PE:
Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat entschieden, dass ein Beschäftigungsverhältnis erst ab dem Beginn der Entgeltfortzahlung und nicht schon mit Abschluss des Arbeitsvertrags begründet wird.
Geklagt hatte ein 36-jähriger Arbeitsloser aus dem Landkreis Cuxhaven, dessen Anspruch auf Arbeitslosengeld Ende Oktober 2023 auslief. Anfang Oktober unterschrieb der Mann einen Arbeitsvertrag als Lagerist bei einem Reinigungsunternehmen zu einem Monatslohn von 3.000 Euro brutto. Er trat die Arbeit jedoch nie an, da er sich zu Beginn des Arbeitsverhältnisses krankmeldete. Zwei Wochen später kündigte die Firma innerhalb der Probezeit.
Die Krankenkasse des Mannes lehnte daraufhin die Zahlung von Krankengeld mit der Begründung ab, es habe kein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis bestanden, da er kein Einkommen erzielt habe.
Der Mann verklagte das Unternehmen und verlangte die Anmeldung zur Sozialversicherung ab dem Beginn des Arbeitsvertrags. Er vertrat dazu die Auffassung, dass bereits durch einen rechtsgültigen Vertrag, der eine Entgeltzahlung vorsehe, ein Beschäftigungsverhältnis zustande komme. Dies müsse auch gelten, wenn ihm der Arbeitsantritt krankheitsbedingt nicht möglich sei. Andernfalls würde er aufgrund seiner Arbeitsunfähigkeit leer ausgehen.
Das LSG vermochte sich der Rechtsauffassung des Klägers nicht anzuschließen. Der Arbeitgeber müsse ihn nicht zur Sozialversicherung anmelden, da ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nicht schon mit dem Beginn des Arbeitsvertrags entstanden sei. Erforderlich sei vielmehr, dass der Arbeitnehmer einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall habe. Dieser Anspruch entstehe jedoch bei neuen Arbeitsverhältnissen generell erst nach einer vierwöchigen Wartezeit. Diese gesetzliche Regelung solle verhindern, dass Arbeitgeber die Kosten der Lohnfortzahlung für Arbeitnehmer tragen müssen, die direkt nach der Einstellung erkrankten. Der Gesetzgeber habe eine solche Konsequenz als unbillig angesehen. Unabhängig davon müsse der Mann sich erst an seine Krankenkasse wenden bevor er seinen Arbeitgeber verklage.
Siehe:
https://landessozialgericht.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/pressemitteilungen/unterschrift-reicht-nicht-ohne-arbeit-kein-geld-239233.html
X.
Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 12. Februar 2025 – 5 AZR 127/24
Schlagworte/Normen:
Freistellung während der Kündigungsfrist - böswilliges Unterlassen anderweitigen Verdienstes
Volltext PE:
Kündigt der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis ordentlich und stellt den Arbeitnehmer trotz dessen Beschäftigungsanspruchs von der Arbeit frei, unterlässt der Arbeitnehmer in der Regel nicht böswillig iSd. § 615 Satz 2 BGB anderweitigen Verdienst, wenn er nicht schon vor Ablauf der Kündigungsfrist ein anderweitiges Beschäftigungsverhältnis eingeht.
Der Kläger war seit November 2019 bei der Beklagten beschäftigt, zuletzt als Senior Consultant gegen eine monatliche Vergütung von 6.440,00 Euro brutto. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 29. März 2023 ordentlich zum 30. Juni 2023 und stellte den Kläger unter Einbringung von Resturlaub unwiderruflich von der Pflicht zur Erbringung der Arbeitsleistung frei. Der vom Kläger erhobenen Kündigungsschutzklage gab das Arbeitsgericht am 29. Juni 2023 statt, die von der Beklagten dagegen eingelegte Berufung hat das Landesarbeitsgericht am 11. Juni 2024 zurückgewiesen.
Nach Zugang der Kündigung meldete sich der Kläger Anfang April 2023 arbeitssuchend und erhielt von der Agentur für Arbeit erstmals Anfang Juli Vermittlungsvorschläge. Die Beklagte übersandte ihm hingegen schon im Mai und Juni 2023 insgesamt 43 von Jobportalen oder Unternehmen online gestellte Stellenangebote, die nach ihrer Einschätzung für den Kläger in Betracht gekommen wären. Auf sieben davon bewarb sich der Kläger, allerdings erst ab Ende Juni 2023. Nachdem die Beklagte dem Kläger für Juni 2023 keine Vergütung mehr zahlte, hat er diese mit der vorliegenden Klage geltend gemacht. Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und eingewendet, der Kläger sei verpflichtet gewesen, sich während der Freistellung zeitnah auf die ihm überlassenen Stellenangebote zu bewerben. Weil er dies unterlassen habe, müsse er sich für Juni 2023 nach § 615 Satz 2 BGB fiktiven anderweitigen Verdienst in Höhe des bei der Beklagten bezogenen Gehalts anrechnen lassen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht ihr stattgegeben. Die dagegen erhobene Revision der Beklagten blieb vor dem Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts ohne Erfolg.
Die Beklagte befand sich aufgrund der von ihr einseitig erklärten Freistellung des Klägers während der Kündigungsfrist im Annahmeverzug und schuldet dem Kläger nach § 615 Satz 1 BGB iVm. § 611a Abs. 2 BGB die vereinbarte Vergütung für die gesamte Dauer der Kündigungsfrist. Nicht erzielten anderweitigen Verdienst muss sich der Kläger nicht nach § 615 Satz 2 BGB anrechnen lassen. Der durch eine fiktive Anrechnung nicht erworbenen Verdienstes beim Arbeitnehmer eintretende Nachteil ist nur gerechtfertigt, wenn dieser wider Treu und Glauben (§ 242 BGB) untätig geblieben ist. Weil § 615 Satz 2 BGB eine Billigkeitsregelung enthält, kann der Umfang der Obliegenheit des Arbeitnehmers zu anderweitigem Erwerb nicht losgelöst von den Pflichten des Arbeitgebers beurteilt werden. Die Beklagte hat nicht dargelegt, dass ihr die Erfüllung des aus dem Arbeitsverhältnis resultierenden, auch während der Kündigungsfrist bestehenden Beschäftigungsanspruchs des Klägers unzumutbar gewesen wäre. Ausgehend hiervon bestand für ihn keine Verpflichtung, schon vor Ablauf der Kündigungsfrist zur finanziellen Entlastung der Beklagten ein anderweitiges Beschäftigungsverhältnis einzugehen und daraus Verdienst zu erzielen.
Siehe:
https://www.bundesarbeitsgericht.de/presse/freistellung-waehrend-der-kuendigungsfrist-boeswilliges-unterlassen-anderweitigen-verdienstes/
XI.
Oberlandesgericht Frankfurt am Main
Beschluss vom 30.12.2024 – 26 W 1/24
Schlagworte/Normen:
Kein Vergütungsanspruch eines GmbH-Geschäftsführers allein aufgrund seiner Organstellung
Leitsatz:
Allein die Organstellung vermittelt dem Geschäftsführer grundsätzlich keinen Anspruch auf Vergütung für die der Gesellschaft erbrachte Tätigkeit.
Siehe:
https://www.rv.hessenrecht.hessen.de/bshe/document/LARE250000141
XII.
Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 19. Februar 2025 – 10 AZR 57/24
Schlagworte/Normen:
Schadensersatz bei verspäteter Zielvorgabe
Volltext PE:
Verstößt der Arbeitgeber schuldhaft gegen seine arbeitsvertragliche Verpflichtung, dem Arbeitnehmer rechtzeitig für eine Zielperiode Ziele vorzugeben, an deren Erreichen die Zahlung einer variablen Vergütung geknüpft ist (Zielvorgabe), löst dies, wenn eine nachträgliche Zielvorgabe ihre Motivations- und Anreizfunktion nicht mehr erfüllen kann, grundsätzlich einen Anspruch des Arbeitnehmers nach § 280 Abs. 1, Abs. 3 BGB iVm. § 283 Satz 1 BGB auf Schadensersatz statt der Leistung aus.
Der Kläger war bei der Beklagten bis zum 30. November 2019 als Mitarbeiter mit Führungsverantwortung beschäftigt. Arbeitsvertraglich war ein Anspruch auf eine variable Vergütung vereinbart. Eine ausgestaltende Betriebsvereinbarung bestimmt, dass bis zum 1. März des Kalenderjahres eine Zielvorgabe zu erfolgen hat, die sich zu 70 % aus Unternehmenszielen und 30 % aus individuellen Zielen zusammensetzt, und sich die Höhe des variablen Gehaltsbestandteils nach der Zielerreichung des Mitarbeiters richtet. Am 26. September 2019 teilte der Geschäftsführer der Beklagten den Mitarbeitern mit Führungsverantwortung mit, für das Jahr 2019 werde bezogen auf die individuellen Ziele entsprechend der durchschnittlichen Zielerreichung aller Führungskräfte in den vergangenen drei Jahren von einem Zielerreichungsgrad von 142 % ausgegangen. Erstmals am 15. Oktober 2019 wurden dem Kläger konkrete Zahlen zu den Unternehmenszielen einschließlich deren Gewichtung und des Zielkorridors genannt. Eine Vorgabe individueller Ziele für den Kläger erfolgte nicht. Die Beklagte zahlte an den Kläger für 2019 eine variable Vergütung iHv. 15.586,55 Euro brutto.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Beklagte sei ihm zum Schadensersatz verpflichtet, weil sie für das Jahr 2019 keine individuellen Ziele und die Unternehmensziele verspätet vorgegeben habe. Es sei davon auszugehen, dass er rechtzeitig vorgegebene, billigem Ermessen entsprechende Unternehmensziele zu 100 % und individuelle Ziele entsprechend dem Durchschnittswert von 142 % erreicht hätte. Deshalb stünden ihm unter Berücksichtigung der von der Beklagten geleisteten Zahlung weitere 16.035,94 Euro brutto als Schadensersatz zu. Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, die Zielvorgabe sei rechtzeitig erfolgt und habe den Grundsätzen der Billigkeit entsprochen, weshalb ein Schadensersatzanspruch wegen verspäteter Ziel-vorgabe ausgeschlossen sei. Unabhängig davon könne der Kläger allenfalls eine Leistungsbestimmung durch Urteil nach § 315 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 BGB verlangen. Die Möglichkeit einer gerichtlichen Ersatzleistungsbestimmung schließe Schadensersatzansprüche wegen verspäteter Zielvorgabe aus. Im Übrigen sei die Höhe eines möglichen Schadens unzutreffend berechnet.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihr auf die Berufung des Klägers stattgegeben. Die Revision der Beklagten hatte vor dem Zehnten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Der Kläger hat gegen die Beklagte, wie vom Landesarbeitsgericht zu Recht erkannt, nach § 280 Abs. 1, Abs. 3 BGB iVm. § 283 Satz 1 BGB einen Anspruch auf Schadensersatz iHv. 16.035,94 Euro brutto. Die Beklagte hat ihre Verpflichtung zu einer den Regelungen der Betriebsvereinbarung entsprechenden Zielvorgabe für das Jahr 2019 schuldhaft verletzt, indem sie dem Kläger keine individuellen Ziele vorgegeben und ihm die Unternehmensziele erst verbindlich mitgeteilt hat, nachdem bereits etwa ¾ der Zielperiode abgelaufen waren. Eine ihrer Motivations- und Anreizfunktion gerecht werdende Zielvorgabe war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich. Deshalb kommt hinsichtlich der Ziele auch keine nachträgliche gerichtliche Leistungsbestimmung nach § 315 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 BGB in Betracht. Bei der im Wege der Schätzung (§ 287 Abs. 1 ZPO) zu ermittelnden Höhe des zu ersetzenden Schadens war nach § 252 Satz 2 BGB von der für den Fall der Zielerreichung zugesagten variablen Vergütung auszugehen und anzunehmen, dass der Kläger bei einer billigem Ermessen entsprechenden Zielvorgabe die Unternehmensziele zu 100 % und die individuellen Ziele entsprechend dem Durchschnittswert von 142 % erreicht hätte. Besondere Umstände, die diese Annahme ausschließen, hat die Beklagte nicht dargetan. Der Kläger musste sich kein anspruchsminderndes Mitverschulden iSv. § 254 Abs. 1 BGB anrechnen lassen. Bei einer unterlassenen oder verspäteten Zielvorgabe des Arbeitgebers scheidet ein Mitverschulden des Arbeitnehmers wegen fehlender Mitwirkung regelmäßig aus, weil allein der Arbeitgeber die Initiativlast für die Vorgabe der Ziele trägt.
Siehe:
https://www.bundesarbeitsgericht.de/presse/schadensersatz-bei-verspaeteter-zielvorgabe/
XIII.
Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 20. Februar 2025 – 6 AZR 155/23
Schlagworte/Normen:
Kontrollpflichten eines Rechtsanwalts bei Fristsachen - Änderung der Rechtsprechung
Volltext PE:
Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts schließt sich der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zur Sorgfaltspflicht des Rechtsanwalts in Fristsachen an, wonach ein Rechtsanwalt den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen immer dann eigenverantwortlich zu prüfen hat, wenn ihm die Akten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Verfahrenshandlung, insbesondere zu deren Bearbeitung, vorgelegt werden. In diesem Fall muss der Rechtsanwalt auch alle weiteren unerledigten Fristen einschließlich ihrer Notierung in den Handakten prüfen, wobei er sich hierbei grundsätzlich auf die Prüfung der Vermerke in der Handakte beschränken darf, sofern sich keine Zweifel an deren Richtigkeit aufdrängen (BGH 17. Mai 2023 – XII ZB 533/22 -; 19. Oktober 2022 – XII ZB 113/21 -). Drängen sich solche Zweifel nicht auf, braucht der Rechtsanwalt demnach nicht noch zusätzlich zu überprüfen, ob das Fristende auch tatsächlich korrekt im Fristenkalender eingetragen ist. Der Erste, Dritte, Achte und Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts haben auf Anfrage des Sechsten Senats mitgeteilt, dass auch sie sich dieser Rechtsauffassung anschließen bzw. an einer etwaig abweichenden Rechtsauffassung nicht festhalten.
Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Bezug auf die versäumte Revisionsbegründungsfrist hatte vor dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Der Kläger war ohne sein Verschulden daran gehindert, die Frist zur Begründung der Revision einzuhalten. Ein ihm zuzurechnendes Verschulden seines Prozessbevollmächtigten lag nicht vor. Dieser hatte auf der Grundlage der ihm vorgelegten Handakten jeweils die Fristwahrung kontrolliert. Eine über die glaubhaft gemachte ausreichende Kanzleiorganisation hinausgehende Pflicht zur eigenständigen Kontrolle des von der Rechtsanwaltsfachangestellten geführten Fristenkalenders durch den Prozessbevollmächtigten bestand nicht.
Siehe:
https://www.bundesarbeitsgericht.de/presse/kontrollpflichten-eines-rechtsanwalts-bei-fristsachen-aenderung-der-rechtsprechung-2/
XIV.
Hessisches Landessozialgericht
Beschluss vom 11.02.2025 – L 6 AS 503/24 B ER
Schlagworte/Normen:
Grundsicherung für Arbeitsuchende sozialgerichtliches Verfahren
Leitsatz:
Zum Fehlen eines Anordnungsgrundes bei existenzsichernden Leistungen, wenn der Antragsteller bei der Klärung des Sachverhalts nicht ausreichend mitwirkt.
Siehe:
https://www.lareda.hessenrecht.hessen.de/bshe/document/LARE250000196
XV.
Hessisches Landesarbeitsgericht
Beschluss vom 7.02.2025 – 12 Ta 17/25
Schlagworte/Normen:
§ 33 RVG, § 63 GKG
Leitsatz:
Der Wert eines Anspruchs des Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber auf Herausgabe eines auch zur Privatnutzung zur Verfügung gestellten Pkws bemisst sich nach § 42 Abs. 1 Satz 1 GKG. Das vertraglich vereinbarte Nutzungsrecht ist als wiederkehrende Leistung mit dem 36-fachen Wert des geldwerten Vorteils der Privatnutzung zu bemessen.
Klagt hingegen der Arbeitgeber auf Herausgabe des Pkw, dürfte der Zeitwert des Fahrzeugs für die Wertbemessung nach § 33 RVG bzw. §§ 32 RVG, 63 GKG maßgebend sein.
Siehe:
https://www.lareda.hessenrecht.hessen.de/bshe/document/LARE250000182
XVI.
Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 04.02.2025, Az.: 10 SLa 470/24
Schlagworte/Normen:
Annahme einer unangemessenen Benachteiligung eines Arbeitnehmers durch Kurzarbeitsvereinbarung
Leitsatz:
1.Die Einführung von Kurzarbeit bewirkt eine Herabsetzung der arbeitsvertraglich geschuldeten und betriebsüblichen Arbeitszeit, mit der eine proportionale Verkürzung der vertraglich geschuldeten Arbeitsvergütung einhergeht. Die Vergütungspflicht des Arbeitgebers wird für die Dauer der Kurzarbeit ganz oder teilweise suspendiert. Diese vergütungsrechtliche Folge der Einführung von Kurzarbeit stellt sich jedenfalls dann als Abweichung von § 611a BGB dar, wenn die Verminderung des Entgeltanspruchs unabhängig von der Bewilligung von Kurzarbeitergeld eintreten soll.
2.Im Hinblick auf die existenzsichernde Funktion des Arbeitsentgelts geht es zu weit, wenn sich der Arbeitgeber vorbehält, die Arbeitszeit ohne Einhaltung einer Ankündigungsfrist "wöchentlich anzupassen" sowie die Kurzarbeit "sofort" abzubrechen und den Arbeitnehmer "jederzeit zur Wiederaufnahme der vollen Tätigkeit zurückrufen" zu können.
3.Allgemeine Geschäftsbedingungen zur Einführung von Kurzarbeit haben deren voraussichtliches Enddatum zu benennen.
Siehe:
https://voris.wolterskluwer-online.de/browse/document/692c6a2e-f2ee-4b8a-a1f9-d1052d6a46c8
XVII.
Landesarbeitsgericht Hamm
Urt. v. 03.01.2025, Az.: 9 Sa 909/23
Schlagworte/Normen:
Altersteilzeit, Auszahlung Wertguthaben, Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, Auslegung
Leitsatz:
Im Falle des kontinuierlichen Modells der Altersteilzeit arbeitet ein Arbeitnehmer durchgehend mit der Hälfte der Arbeitszeit und erhält hierfür - ergänzt durch Aufstockungsbeträge - fortlaufend auch die Hälfte der Vergütung ausgezahlt. Ein Wertguthaben, das im Falle vorzeitiger Beendigung des Altersteilzeitarbeitsverhältnisses ausgezahlt werden müsste, wird infolge dieser fortlaufenden Auszahlung der Teilzeitvergütung im kontinuierlichen Modell der Altersteilzeit gerade nicht angespart.
Siehe:
https://nrwe.justiz.nrw.de/arbgs/hamm/lag_hamm/j2025/9_Sa_909_23_Urteil_20250103.html
XVIII.
Landesarbeitsgericht Köln
Urt. v. 07.01.2025, Az.: 7 SLa 78/24
Schlagworte/Normen:
Annahmeverzugslohn, Auskunftsanspruch, Scheinbewerbung, böswilliges Unterlassen
Leitsatz:
1. Es kann rechtlich keinen Unterschied machen, ob jemand die Aufnahme anderer Arbeit durch schlichte Untätigkeit und mangelnde Bewerbungsbemühungen vereitelt oder sich zwar formal bewirbt, aber durch den Inhalt seiner Bewerbung direkt oder konkludent zum Ausdruck bringt, an einer Arbeitsaufnahme überhaupt nicht interessiert zu sein.
2. Gibt es ausreichende Indizien, dass der Arbeitnehmer solche "Scheinbewerbungen" abgegeben hat, muss er dem Arbeitgeber, von dem er Annahmeverzugslohn begehrt, auf Verlangen auch Auskunft über den Inhalt seiner Bewerbungen geben.
Siehe:
https://nrwe.justiz.nrw.de/arbgs/koeln/lag_koeln/j2025/7_SLa_78_24_Urteil_20250107.html
Neu eingestellte Entscheidungen des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein:
EinstelldatumAktenzeichenGerichtSchlagworteDatei
10/02/20255 Ta 26/24LAG Schleswig-HolsteinProzesskostenhilfe, Versagung, keine hinreichenden Erfolgsaussichten, maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt, Rechtskraft der Entscheidung, HauptverfahrenBeschluss-5-Ta-26-24-25-07-2024.pdf
(307.2 KB)
Sonstiges:
I.
Bay. ObLG
Beschluss v. 17.04.2024 – 203 StRR 141/24
Schlagworte/Normen:
Voraussetzungen der Beihilfe zu Untreue und Bankrott durch einen Rechtsanwalt; Schlagworte: Beihilfe, Anderkonto, Rechtsanwalt, schwarze Kasse, Beendigung, Untreue
Leitsatz:
Ein Rechtsanwalt kann durch das Zur Verfügung Stellen eines Anderkontos eine Beihilfe zur Untreue und zum Bankrott begehen. (Rn. 15 – 16)
Das Zur-Verfügung-Stellen des Anderkontos eines Rechtsanwaltes für den Zahlungsverkehr aus einer "schwarzen Kasse" kann Beihilfe zur Untreue und zum Bankrott darstellen. Entsteht der Nachteil im Sinne des § 266 StGB durch eine Aneinanderreihung verschiedener aufeinander bezogener Ereignisse, ist für die Beendigung der Untreue der Zeitpunkt des letzten Ereignisses und der endgültige Vermögensverlust maßgeblich. Bis dahin ist eine Beihilfe auch mittels Tatbeiträgen, die zwischen der Vollendung und der Beendigung erbracht wurden, möglich. (Rn. 15 – 16) (red. LS Alexander Kalomiris).
Siehe:
https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/Y-300-Z-BECKRS-B-2024-N-12896
II.
Landgericht Koblenz
Urteil vom 18.12.2024, Az. 15 O 97/24 (nicht rechtskräftig)
Schlagworte/Normen:
Zusatzvergütung eines Rechtsanwalts nach Abschluss des Mandats
Volltext PE:
Welche Anforderungen gelten hinsichtlich einer zwischen einer Mandantin und ihren Rechtsanwälten vereinbarten zusätzlichen Vergütung nach Abschluss des Mandats? Diese Frage hatte die 15. Zivilkammer des Landgerichts Koblenz zu beantworten.
Zum Sachverhalt:
Die Klägerin wurde durch die beklagte Rechtsanwaltskanzlei außergerichtlich in einer Schadens- und Schmerzensgeldsache vertreten. Bei Mandatserteilung schlossen die Parteien eine weitere schriftliche Vereinbarung die mit „Zusatzvereinbarung zur anwaltlichen Vergütung“ überschrieben war. Darin hieß es unter anderem: „Die Parteien sind sich einig, dass im Falle des Erfolgs, die Frage einer zusätzlichen, über die gesetzliche Regelung hinausgehenden Vergütung noch einmal besprochen wird.“ Im Rahmen der außergerichtlichen Verhandlungen schloss die Beklagte für die Klägerin einen Vergleich ab, nach dem die Klägerin 150.000 € erhalten sollte. Diese Summe wurde von der Gegenseite gezahlt und ging auf dem Konto der Beklagten ein. Nach Zahlungseingang kam es zu einem Telefonat zwischen der Klägerin und der Beklagten, in dem über die Zahlung einer freiwilligen zusätzlichen Vergütung gesprochen wurde, wobei jedoch der genaue Inhalt des Gesprächs zwischen den Parteien streitig war. Die Beklagte stellte der Klägerin sodann eine „Erfolgsunabhängige Vergütung, Vergütungsvereinbarung § 3a RVG, §§ 4, 3a RVG“ über einen Betrag in Höhe von 20.000 € zuzüglich 19% Mehrwertsteuer, insgesamt somit 23.800 € in Rechnung. In einer Textnachricht an die Klägerin vom gleichen Tag bedankte sich die Beklagte für die „entgegenkommende und anerkennende Zahlung der zwischen uns besprochenen Zusatzvergütung von 20.000 € netto“ und erteilte Abrechnung. Dabei zog sie von den erhaltenen 150.000 € Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 23.800 € ab. Den danach verbleibenden Zahlbetrag in Höhe von 126.200 € kehrte die Beklagte sodann an die Klägerin aus. In der Folgezeit forderte die Klägerin erfolglos von der Beklagten auch die Überweisung der restlichen 23.800 €.
Die Klägerin war der Auffassung, dass keine wirksame Vertragsgrundlage für den Abzug von 23.800 € vorgelegen habe und machte diesen Betrag nebst Zinsen in dem vorliegenden Verfahren geltend.
Die Beklagte behauptete, dass die Parteien in dem Telefonat eine keinerlei Formvorschriften unterliegende Bonusvereinbarung getroffen hätten. Die Klägerin habe Kenntnis davon gehabt, dass die Beklagten keinen Rechtsanspruch auf eine Bonuszahlung habe und sich trotzdem mit einer solchen in Höhe von 10 % der Gesamtentschädigung einverstanden erklärt. Es sei auch vereinbart worden, dass diese Bonuszahlung durch entsprechende Einbehaltung der eingegangenen Entschädigung erfolgen sollte. Die vereinbarte Bonusvereinbarung stelle weder eine Erfolgsvereinbarung noch eine Gebühren- oder Vergütungsvereinbarung i. S. d. § 3a RVG dar. Wenn sich die Klägerin, wie erfolgt, bei völliger Transparenz entscheide, einen Bonus zu bezahlen, verstoße es zudem gegen Treu und Glauben, sich auf eine fehlende Textform zu berufen.
Die Entscheidung:
Die 15. Zivilkammer hat der Klage stattgegeben und die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung verurteilt. Die Klägerin habe einen Anspruch auf Auszahlung der übrigen 23.800 €, weil die von der Beklagten behauptete Vereinbarung aufgrund eines Verstoßes gegen die Formvorschrift des § 3a RVG nicht formwirksam zustande gekommen sei.
Zunächst sei festzustellen, dass keine Schenkung vorliege, weil die Verknüpfung mit einer Gegenleistungspflicht auch noch durch nachträgliche Gewährung einer Vergütung für eine Leistung erfolgen könne, die ursprünglich ohne Anspruch auf dieses Entgelt erbracht worden ist. Der von der Beklagten geltend gemachte Vergütungsanspruch stelle auch kein Erfolgshonorar dar, weil keine Vergütung vereinbart worden sei, deren Entstehen von einer aufschiebenden Bedingung (§ 158 BGB) eines – je nach Einzelfall näher definierten – Erfolges der anwaltlichen Tätigkeit abhängig gewesen sei.
Die Kammer hat es jedoch aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme als erwiesen angesehen, dass die Parteien telefonisch eine Vereinbarung über die Gewährung einer zusätzlichen Vergütung in Höhe von 23.800 € zugunsten der Beklagten getroffen haben. Bei dieser handele es sich um eine dem §3a RVG unterfallende Vergütung. Bereits dem Wortlaut und Wortsinn nach liege eine Vergütungsvereinbarung vor, da mit dieser Vereinbarung die Beklagte für ihre erbrachte anwaltliche Tätigkeit (wenn auch zusätzlich) entlohnt, mithin vergütet werden sollte. Die Beklagte habe selbst in der von ihr vorformulierten „Zusatzvereinbarung zur anwaltlichen Vergütung“, in mehreren Textnachrichten und der Kostenrechnung stets das Wort „Vergütung“ aufgeführt. Zudem verwende das Gesetz den Begriff „Vergütungsvereinbarung“ dann, wenn eine höhere oder eine niedrigere als die gesetzlich festgelegte Vergütung zwischen Anwalt und Mandant vereinbart werden soll. Somit gelte der § 3a RVG, wovon die Beklagte im Übrigen wohl selbst ausgegangen sei, denn mit ihrer Kostenrechnung habe sie eine „Erfolgsunabhängige Vergütung, Vergütungsvereinbarung § 3a RVG, §§ 4, 3a RVG“ in Rechnung gestellt.
Für die abgeschlossene Vereinbarung gelte somit das Formerfordernis der Textform, wovon auch entgegen der Ansicht der Beklagten nicht abgewichen werden könne. Der vereinzelt in der Literatur vertretenen Auffassung, dass es ohne Einhaltung von irgendwelchen Formalien möglich sein müsse, mit dem Mandanten nach Abschluss des Mandats einen wie auch immer gestalteten Zuschlag oder Bonus zu vereinbaren, vermochte sich die Kammer nicht anzuschließen. Die unterschiedliche Situation zu Beginn und nach Abschluss des Mandats vermöge ein Abweichen von der Formvorschrift nicht zu begründen. Die Schutzbedürftigkeit des Mandanten möge zwar nach Abschluss des Mandats geringer sein, sie entfalle jedoch aufgrund der grundsätzlich überlegenden Erfahrung des Rechtsanwalts bei solchen Verhandlungen nicht vollständig. Zudem könne bei einer solchen Verhandlung auch ein gewisser Zwang entstehen, wenn – wie auch vorliegend – neben der Betonung der Freiwilligkeit einer solchen zusätzlichen Vergütung, zugleich auch darauf abgestellt werde, dass man sich darauf verlasse, dass der Mandant zu seinem Wort stehe. Auch vor dem Hintergrund des mit der Textform einhergehenden Schutzzwecks (Warnfunktion) und der Beweisfunktion sah die Kammer keine Veranlassung, von dem Erfordernis der Textform abzuweichen. Die Klägerin verstoße auch dadurch, dass sie sich auf die Formunwirksamkeit beruft, nicht gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB). Der Formmangel eines Rechtsgeschäfts sei nur ganz ausnahmsweise wegen unzulässiger Rechtsausübung unbeachtlich, weil sonst die Formvorschriften des bürgerlichen Rechts ausgehöhlt würden. Eine solche Ausnahme liege jedoch nicht vor. Die Klägerin habe weder die Beklagten schuldhaft von der Einhaltung der Schriftform abgehalten, noch nach Abschluss der Vereinbarung, auf deren Formunwirksamkeit sie sich beruft, Vorteile aus dem Vertrag gezogen oder durch ein Handeln ein berechtigtes Vertrauen der Beklagten auf die Wirksamkeit des Vertrages begründet, aufgrund dessen die Beklagten irgendeine Leistung erbracht hätte. Aufgrund des Verstoßes gegen die Textform könne somit die Beklagte gem. § 4b RVG keine höhere als die gesetzliche Vergütung fordern. Da die gesetzliche Vergütung, die Geschäftsgebühr, bereits an die Beklagte bezahlt worden sei, bestehe ein darüberhinausgehender Vergütungsanspruch, mit dem die Beklagte gegen den unstreitigen Auszahlungsanspruch hätte aufrechnen können, nicht. Die Beklagte sei daher gem. §§ 675, 667 BGB zur Herausgabe des einbehaltenen Fremdgeldes in Höhe von 23.800 € verpflichtet.
Auszug aus dem RVG
§ 3a Vergütungsvereinbarung (1) Eine Vereinbarung über die Vergütung bedarf der Textform. Sie muss als Vergütungsvereinbarung oder in vergleichbarer Weise bezeichnet werden, von anderen Vereinbarungen mit Ausnahme der Auftragserteilung deutlich abgesetzt sein und darf nicht in der Vollmacht enthalten sein. Sie hat einen Hinweis darauf zu enthalten, dass die gegnerische Partei, ein Verfahrensbeteiligter oder die Staatskasse im Falle der Kostenerstattung regelmäßig nicht mehr als die gesetzliche Vergütung erstatten muss. Die Sätze 1 und 2 gelten nicht für eine Gebührenvereinbarung nach § 34.
Siehe:
https://lgko.justiz.rlp.de/presse-aktuelles/zivilverfahren
III.
Landgericht Lübeck
Urteil vom 23.01.2025 – 15 O 262/23
Schlagworte/Normen:
Das Einmelden von Positivdaten aus Telekommunikationsverträgen an die SCHUFA stellt sich als eine rechtswidrige Verarbeitung von Daten dar und begründet Schadensersatzansprüche nach Art. 82 DSGVO
Leitsatz:
Es kann dahinstehen, ob die Einmeldung von Positivdaten durch Telekommunikationsunternehmen an die SCHUFA zur Verwirklichung berechtigter Interessen erforderlich ist.
Jedenfalls im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegen das Recht der Betroffenen auf informationelle Selbstbestimmung.
Es liegt ein überwiegend schutzwürdiges Interesse der betroffenen Personen jedenfalls dann vor, wenn Zweck der Datenübertragung die Erstellung eines Persönlichkeitsprofils ist, wenn eine große Reihe von Daten miteinander verkettet werden sollen oder wenn eine Datenverarbeitung besonders umfassend ist, sie potenziell unbegrenzte Daten betrifft und erhebliche Auswirkungen auf den Nutzer hat. Eine derartige Konstellation liegt im Fall der Einmeldung von Positivdaten durch Telekommunikationsunternehmen an die Schufa vor.
Ein Schaden im Sinne von Art. 82 DSGVO liegt auch in der Verletzung des Rechts der Betroffenen auf informationelle Selbstbestimmung. Das Recht des Klägers auf informationelle Selbstbestimmung wurde durch die Einmeldung der Positivdaten durch die Beklagte verletzt.
Siehe:
https://www.gesetze-rechtsprechung.sh.juris.de/bssh/document/NJRE001597919
Michael Henn
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Erbrecht
Fachanwalt für Arbeitsrecht
VDAA – Präsident
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