Zur Untersuchungshaft und Fluchtgefahr bei Jugendlichen
Das Oberlandesgericht Koblenz hat erneut die unzureichende Begründung des Haftgrundes der Fluchtgefahr in einem konkreten Fall gerügt (Beschluss vom 26.02.2010, 2 Ws 60/10).
Weiterhin hat es erneut betont, dass bei Jugendlichen die Untersuchungshaft nur als letztes Mittel in Betracht kommt und die Haftgerichte an ihre Pflicht erinnert, dies auch entsprechend zu prüfen. Haftbefehle, die diesen Anforderungen nicht genügen, sind rechtswidrig und daher aufzuheben.
Der Haftgrund der Fluchtgefahr ist der in der Praxis am häufigsten angewandte Haftgrund. Nicht selten wird dieser Haftgrund im Haftbefehl nur formelhaft begründet. In dem Zusammenhang hat nun das Oberlandesgericht Karlsruhe in einem Beschluss vom 26.02.2010 deutlich ausgeführt, das Vermutungen zur Annahme der Fluchtgefahr nicht ausreichen. Vielmehr müssen die Tatsachen hinreichend bestimmt sein. Besonders bei Jugendlichen muss die Annahme von Fluchtgefahr detailliert und intensiv geprüft werden.
Darüber hinaus beanstandet das Oberlandesgericht die zudem weit verbreitete Praxis, auf die besonderen Voraussetzungen für Untersuchungshaft bei Jugendlichen nicht einzugehen.
Im Jugendstrafrecht gilt der Grundsatz der Subsidiarität der Untersuchungshaft. Demnach darf Untersuchungshaft gegen Jugendliche aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nur verhängt oder vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung ( Unterbringung in einem Heim ) oder andere Maßnahmen erreicht werden kann. Wenn U-Haft vollstreckt wird, muss das Haftgericht im Haftbefehl die Gründe aufführen, aus denen sich ergebe, dass andere Maßnahmen nicht ausreichen und Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig sei. Wenn dies unterbleibt, ist die Anordnung der Untersuchungshaft schon aus diesem Grund fehlerhaft. Ob andere Maßnahmen zur Vermeidung von Untersuchungshaft ausreichen, muss das Gericht unter Einschaltung der Jugendgerichtshilfe aufklären. Die bloß formelhafte Begründung, dass „andere Maßnahmen nicht ausreichen“ ist nicht ausreichend.
Gegen einen Haftbefehl hat der Beschuldigte die Rechtsmittel der Haftbeschwerde oder Haftprüfung.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz lautet auszugsweise im Wortlaut wie folgt:
Die weitere Beschwerde des Beschuldigten führt zur Aufhebung des Haftbefehls. Der Haftgrund der Fluchtgefahr ist nach dem Inhalt der dem Senat vorgelegten Akten nicht begründet.
Gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO besteht Fluchtgefahr, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen bei Würdigung der Umstände des Einzelfalls die Gefahr im Sinne einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit besteht, der Beschuldigte werde sich dem Strafverfahren entziehen. Bei Jugendlichen, bei denen Untersuchungshaft nach der Intention des Gesetzgebers möglichst vermieden werden soll, tritt das Subsidiaritätsprinzip hinzu, wonach (§ 72 Abs. 1 JGG) im Haftbefehl Gründe anzuführen sind, weshalb andere Maßnahmen, etwa eine Heimunterbringung, nicht ausreichen.
Vorliegend besteht für die Annahme von Fluchtgefahr keine ausreichende Tatsachengrundlage. Zwar muss der Beschuldigte mit der Verhängung einer beträchtlichen, möglicherweise nicht mehr bewährungsfähigen Jugendstrafe rechnen, in die eine bereits rechtskräftig verhängte Jugendstrafe von sechs Monaten einzubeziehen wäre. Vorliegend reicht diese Straferwartung aber weder für sich allein noch im Zusammenhang mit anderen Umständen aus, eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Annahme zu begründen, der Beschuldigte werde sich dem Verfahren entziehen. In diesem Zusammenhang geht die Erwägung der Kammer fehl, es bestünden keine Anhaltspunkte für "besonders intensive oder enge soziale Bindungen an die Familie oder ein sonstiges soziales Umfeld". Hierbei handelt es sich ersichtlich um eine bloße Vermutung. Der Haftgrund der Fluchtgefahr wäre gerade bei einem Jugendlichen nur begründbar, wenn als Tatsache feststünde, dass soziale oder andere Bindungen nicht oder nur in so geringem Maße bestehen, dass ihnen fluchthinderndes Gewicht nicht zugesprochen werden kann. Dafür ergeben die Akten nichts. Immerhin wurde der Beschuldigte in seinem Elternhaus, wo er offenbar auch polizeilich gemeldet ist, festgenommen. Auch die Vermutungen, die die Kammer hinsichtlich der Möglichkeit anstellt, der Beschuldigte, der bislang im Elternhaus gewohnt hat und zur Schule gegangen ist, "gute Aussichten" habe, bei Bekannten im Drogenmilieu untertauchen, erreichen nicht die Qualität "bestimmter Tatsachen" im Sinne von § 112 StPO.
Hinzu kommt: Im Jugendstrafrecht gilt das Prinzip der Subsidiarität der Untersuchungshaft. Nach § 72 Abs. 1 JGG darf Untersuchungshaft gegen einen Jugendlichen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nur verhängt oder vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann. Wird Untersuchungshaft verhängt, sind im Haftbefehl die Gründe anzuführen, aus denen sich ergibt, dass andere Maßnahmen nicht ausreichen und die Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig ist. Unterbleibt dies, ist die Anordnung der Untersuchungshaft, worauf der Verteidiger des Beschuldigten in seinen Beschwerdeschreiben zutreffend hingewiesen hat, schon aus diesem Grunde fehlerhaft (OLG Hamm B. v. 17.03.2009 3Ws 86/09 in juris mwN).
Diesen Anforderungen werden weder der Haftbefehl des Amtsgerichts noch der landgerichtliche Beschluss vom 11.02.2010 noch die Nichtabhilfeentscheidung des Landgerichts gerecht. Der Haftbefehl enthält hierzu nur den formelhaften Satz, eine andere, weniger einschneidende Maßnahme verspräche derzeit keinen Erfolg. Die Erwägung des Landgerichts, in dem frühen Verfahrensstadium könne nicht festgestellt werden, ob eine Heimunterbringung ausreiche, wird dem Subsidiaritätsprinzip des § 72 JGG in keiner Weise gerecht. Es wäre, nachdem schon das Amtsgericht keine sichtbaren Überlegungen in diese Richtung angestellt hatte, Sache der Kammer gewesen, diese Frage gegebenenfalls unter Einschaltung der Jugendgerichtshilfe zu klären.
Der Haftbefehl konnte deshalb nicht bestehen bleiben. Er konnte auch nicht auf Wiederholungsgefahr im Sinne von § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO gestützt werden, weil diese Bestimmung die Erwartung von Freiheitsstrafe, der eine Jugendstrafe insoweit nicht gleichsteht, zum Gegenstand hat.
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